Archiv Fefe a8ebf591

Dies ist die archivierte Version der Seite http://blog.fefe.de/?ts=a8ebf591, abgerufen am 26.12.2015.

Wed Oct 7 2015

[l] Ich möchte hier mal eine These vertreten, um der Wahrheitsfindung zu dienen.

Wenn Linus sich auf Mailinglisten fies und gemein verhält, ist er immer noch sozialer (bzw weniger asozial) als die Twitter/Tumblr-Empörer. Denn Linus toleriert fremde Meinungen und gibt ihnen negatives Feedback, während die Twitter/Tumblr-Empörer fremde Meinungen direkt wegfiltern.

Sozial nutze ich hier im Wortsinne, mit anderen Menschen Dinge tun. Linus zu beschimpfen ist von außen immer einfach, aber wer von euch hält es denn tagein tagaus auf einer "feindlichen" Mailingliste der Größe von LKML aus? Mit lauter Leuten, die endlos Dinge von ihm wollen, und seine Ablehnung persönlich nehmen? Egal was er macht, jemand wird es als persönlichen Angriff werten? Er sagt endlos voraus, "wenn ihr $foo macht, wird das Scheiße", dann machen die Leute $foo und es wird Scheiße und er will das Ergebnis nicht aufnehmen und dann ist ER Schuld?!

Also ich als Nerd möchte hier mal ein paar Dinge zu Protokoll geben.

Erstens. Nerds sind im persönlichen Gespräch sozial unterlegen, aber sie haben für Online-Situationen völlig klare Algorithmen entwickelt, die beide Seiten vorher kennen. In Online-Medien gibt es Verwechslungen und Missverständnisse (ich möchte jeden, der Linus als geifernden Proleten sieht, mal einladen, eines seiner Videos zu gucken. Der Mann ist geradezu charmant und ein Sympathieträger im persönlichen Gespräch! Der Kontrast könnte kaum größer sein!). Nerds wissen das und reagieren entsprechend. Wichtigstes Mittel zur Vermeidung von schlechten Situationen ist negatives Feedback. Nerds wissen das und geben frühzeitig negatives Feedback. Nerds wissen auch, dass auf der anderen Seite möglicherweise jemand sitzt, der ihr negatives Feedback für einen persönlichen Angriff hält und daher möglicherweise ignoriert und dann die Zeit aller verplempert und viel Drama und Schaden anrichtet. Daher wird der Nerd, wenn er den Eindruck hat, sein negatives Feedback wurde ignoriert, nochmal nachlegen. Es gibt hier eine relativ klare Eskalationsstruktur. Wie schnell die eskaliert, hängt vom Medium ab. In meiner Inbox zum Beispiel, wenn ich jemandem schreibe, er soll weggehen, und der schreibt mir nochmal, dann frage ich zurück, welchen Teil von "geh weg" er nicht verstanden hat, und dass er weg gehen soll, und wer dann immer noch mal schreibt, der kommt ins ewige Killfile. Das ist meine Eskalationsstrategie. Auf Mailinglisten wird man im Allgemeinen etwas langsamer eskalieren, aber es läuft grob ähnlich ab.

Zweitens. Ich hatte neulich eine Mail, wo jemand folgende Situation schilderte. Mailingliste, einkommende Anfrage, Null Reaktion. Hey, das ist unhöflich, ich antworte mal. Hat geantwortet, die Antwort war nicht 100% korrekt, andere Leute korrigierten dann, und zwar auf der Mailingliste, nicht per privater Mail. Das wertete der Einsender als privaten Angriff auf sich, und was bilden sich diese Leute alle ein, wenn die das besser wissen, hätten sie ja was antworten können! Aber so läuft das nicht unter Nerds. Nerds können sich an der Stelle in den Gegenüber reinversetzen und wissen: Lieber keine Antwort als falsche Antwort. Falsche Antwort verplempert mehr Zeit. Und eine falsche Antwort ist auch für alle anderen auf der Mailingliste ein Affront, denn die müssen die jetzt korrigieren. Das soziale Konstrukt einer Mailingliste ist nämlich, dass es irgendwo ein Archiv gibt, und vor dem Fragen soll man bitte im Archiv gucken, ob die Frage schonmal gestellt und beantwortet wurde. Das ist so, weil überflüssige Mails an die Liste alle Subscriber Zeit kosten, dein Suchen aber nur dich. Nerds sind da Techies und berechnen die verbrauchte Energie. Wenn du im Archiv suchst, wird dir geholfen, und du kostet niemanden sonst Zeit. Wenn du deine Frage, die im Archiv schon beantwortet ist, auf die Mailingliste postest, dann antworten wir nicht, weil es deine Aufgabe gewesen wäre, im Archiv nachzugucken. Die Energiebilanz ist dabei schon negativ, weil alle Subscriber die Zeit verplempern mussten, deine überflüssige Mail zu ignorieren. Wenn du eine Frage auf die Mailingliste schreibst, die schon im Archiv beantwortet wurde, und jemand antwortet jetzt etwas falsches, dann ist das der Worst Case, denn das muss korrigiert werden, sonst findet der nächste Typ, der sich an die Regeln hält und vorher im Archiv guckt, deine falsche Antwort und nicht die richtige und das ganze soziale Konstrukt ist kaputt.

So und jetzt überlegt euch mal, wie viel mehr Aufwand das Schreiben einer Korrekturmail verursacht im Vergleich zum Löschen einer dummen Frage. So viel mehr schlechte Laune erzeugt ihr mit einer falschen Antwort auf eine dumme Frage.

Aber vielleicht war die Frage ja gar nicht dumm und noch nie im Archiv beantwortet? Das kann sein. Denkbar ist es. In meiner langen Karriere in Mailinglisten und im Usenet kann ich mich gerade an keinen einzigen Fall erinnern, wo auf eine tatsächliche neue Frage keine Antworten gekommen sind. Und sei es nur "Das ist ja eine interessante Frage!".

Aber jetzt überlegt euch mal, wie die eben beschriebene Situation auf Außenstehende wirkt. Die Mailingliste ist voller Fragen von Neulingen, und die werden alle ignoriert oder abgekanzelt. Ab und zu antwortet mal jemand auf eine, und der kriegt dann sofort von allen Seiten auf die Fresse. Sieht das wie eine gute Atmosphäre aus? Natürlich nicht! Niemand will das! Aber wer ist Schuld daran?

Aus meiner Sicht: Die Neulinge, die sich nicht an die soziale Konvention gehalten haben. Und das ist einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Nerds und anderen Menschen. Andere Menschen haben dann Mitleid mit den Neulingen. Was ist denn das für eine Community, fragen sie, in der man Neulinge so negativ behandelt? Ihr wollt doch wachsen! Seid lieb zu den Newbies!

Und da kann ich nur sagen: Nein, ich will gar nicht wachsen. Die Communities, in denen ich drin bin, sind alle genau richtig groß. Wachstum ist kein Wert an sich, und wenn ich mir Wachstum dadurch erkaufe, dass der Blick in die Mailingliste nur noch aus Schmerz und Trübsal besteht, weil sich keiner an die sozialen Normen hält und sich vorher selber zu helfen versucht, dann sehe ich Wachstum sogar eher negativ als positiv.

Und richtig schlimm wird es, wenn die Neulinge gar nicht kommen, weil sie zu deiner Community wollen, sondern weil sie gehört haben, dass auf deiner Mailingliste die Neulinge so schlecht behandelt werden, und sie was zum Empören gesucht haben.

Wenn man bei einer typischen Mailingliste all die überflüssige Fragen wegnimmt, und all die Antworten auf überflüssige Fragen, dann bleibt im Allgemeinen nicht viel übrig. Das kannst du doch nicht wollen, Fefe? Doch, genau das will ich. Wenn es nichts zu sagen gibt, dann hätte ich gerne Ruhe und würde mich gerne entspannen, anstatt schon wieder 100 sinnlose Mails löschen zu müssen.

Oh und einen noch. Ich beschrieb oben die Eskalationsstrategie von Nerds. Geschichten der Form "dieser höfliche, freundliche Mensch kam auf die Mailingliste und fragte höflich und zurückhaltend diese legitime Frage und wurde zusammengebrüllt und weggemobbt" sind meiner Erfahrung nach alles Lügen. Jede einzelne davon. Ich bin in meinem Leben auf einigen echt haarigen Mailinglisten gewesen, und NOCH NIE habe ich erlebt, dass jemand, der eine legitime Frage gestellt hat, und dabei höflich und zurückhaltend war, angepflaumt wurde. Nicht ein einziges Mal.

Ich habe auch ein paar Mal auf der Linux-Kernel-Mailingliste gepostet über die Jahre. So ein halbes Dutzend bis 10 Mal oder so würde ich schätzen. Wisst ihr, wie häufig ich angepflaumt wurde? ÜBERHAUPT NICHT.

In meinen Augen haben Leute, die auf Twitter Filterblasen betreiben, im Bezug auf das soziale Verhalten anderer mal gepflegt die Fresse zu halten, denn sie haben sich jegliches moralisches Standing verwirkt. Überhaupt finde ich es sehr problematisch, anderen Leuten sagen zu wollen, wie sie ihr Leben zu führen haben. Wenn euch die Linux-Kernel-Mailingliste nicht gefällt, macht halt eine Kernelflausch-Mailingliste auf, wo es gesitteter zugeht. Für über 90% des Inhaltes der echten Kernelmailingliste braucht man Linus' Anwesenheit nicht. Wenn das tatsächlich besser flutscht, dann wird die unsichtbare Hand des Marktes eurer Mailingliste Erfolg bescheren. Wenn nicht, dann werde ich oben auf der Brücke stehen und euch "told you so" zurufen.

Update: Noch was. Nicht auf eine dumme Frage zu antworten ist auch negatives Feedback und am Ende für den Fragesteller gedacht, nicht für die anderen. Der merkt dann hoffentlich, dass er was falsch gemacht hat, und korrigiert sein Verhalten. Newbies, die dumme Fragen stellen, zu helfen, ist nicht nur nicht negatives Feedback, es ist positives Feedback. Damit transportiert man die Nachricht, dass es OK ist, lieber anderer Leute Zeit zu verplempern als selber mal fünf Minuten ins Archiv zu gucken. Damit erzieht man die Leute zum genauen Gegenteil des gewünschen Verhaltens.

Update: Noch einen. Diese Ausführungen basieren auf der Annahme, dass es sich um eine technische, zielgerichtete Mailingliste handelt. Schlaue Projekte haben daher mehrere Mailinglisten. Einmal foo-dev für die Leute, die das Projekt vorantreiben. Einmal foo-announce für die Leute, die nur wissen wollen, wenn eine neue Version rauskam. Und einmal foo-talk als Auffangbecken für die ganzen Schwallbacken, die Mailinglisten als soziales Forum für Smalltalk begreifen.

Update: Auf einen Satz runtergebrochen: Deine Lebenszeit ist nicht wertvoller als meine. Daher mögen die Leute auch keine Werbung, keinen Spam, keine Prediger, keine Cold Calls, keine Vertreter und keine Zeugen Jehovas an der Tür. Wenn du nicht merkst, was für ein Arschloch-Move das ist, meine Zeit mit deinem trivialen Scheiß in Anspruch zu nehmen, dann verschiebst du dich damit direkt drei Punkte auf der Arschloch-Freund-Skala in Richtung Arschloch. Und kommt mir nicht mit freier Meinungsäußerung. Da muss das, was du zu sagen hast, direkt erstmal inhaltlich die drei Minuspunkte wettmachen, damit ich das unter dem Strich positiv bewerten kann. Ich empfinde es übrigens auch als ganz große Frechheit, wenn mich irgendwelche Leute anrufen. Besonders Journalisten halten das für völlig normal, von anderen zu erwarten, dass sie stundenlang mit ihnen telefonieren. Äh, nein. Ich denke gar nicht daran. Mein Telefon ist für Notfälle. Familienmitglied verschollen. Bekannter vermisst. DU bist im Zweifelsfall KEIN Notfall.

Update: Weil sich tatsächlich Einzelne nicht entblöden, das hier als "SO MACHEN NERDS DAS HALT UND DAHER IST DAS SO RICHTIG" zu strohmannisieren: Es ging hier nicht darum, zu sagen, dass das so richtig ist. Ist es vielleicht gar nicht. Es ging darum, zu sagen, dass das nicht böses Fies- und Gemeinsein ist, sondern dass sich da jemand was bei gedacht hat, und dass dein aus deiner Sicht völlig harmloses, gar höfliches Verhalten aus Sicht anderer an asoziales anderer-Leute-schöne-Dinge-kaputtmachen grenzt. Meiner Erfahrung nach ist es viel besser, zu erklären, warum Dinge so sind, als zu erklären, dass sie so sind und passt euch gefälligst an. Die Dinge sind so, weil die Nerds vorher die anderen Optionen durchprobiert haben und die waren alle noch schlechter. Bist du jetzt möglicherweise das Genie, das den Dritten Weg findet, der alles besser macht? Denkbar. Aber sehr, sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass du gerade dabei bist, dich monumental zum Idioten zu machen, indem du die Fehler, die andere Leute schon für dich gemacht haben, nochmal machst. Auf Kosten anderer. :-)